Legende
In einem kleinen Dorf, längst vergessen von der restlichen Bevölkerung, dort beginnt meine Geschichte.
„Lanthir“ ist eine Siedlung hoch im Norden Lorthans, wo gerade, hoch gewachsenen Kiefern, Pinien und Bergbuchen das Bild prägen.
Woher dieser merkwürdige Name stammt, werde ich euch sogleich verraten. Die Waldelfen waren es, die dieser Siedlung vor hunderten von Jahren, diesen für uns so fremden Namen gaben. Lanthir bedeutet in der Sprache der Menschen nämlich nichts anderes als „Wasserfall.“ Der Grund hierfür liegt, wie der Name schon sagt an den tosenden Wasserfällen und reissenden Schmelzwasserbächen, die im Frühling nach der Schneeschmelze durch das Tal schallen. Nach einem langen Winter, in dem sowohl das Wasser als auch die Zeit für immer eingefroren zu sein scheinen, ist das Tauwetter des Frühlings wie die Geburt neuen Lebens.
Lanthir wurde am Fusse des mächtigen Frostberges errichtet, dessen Spitze sein Ende erst in den sanft geschwungenen Wolken zu finden scheint. Weshalb die Elfen ihre Siedlung ausgerechnet hier erbauten, ist nur wenigen Leuten bekannt. Man munkelt, dass es an den elementaren Strömungen liegt, die ihre Bahnen durch das Land ziehen. Überall auf der Welt gibt es Punkte, wo die Magie aus dem Kern der Erde an die Oberfläche steigt, was in Fachkreisen auch als Magiebrennpunkte bezeichnet wird. Der Frostberg ist ein solcher Brennpunkt. Von ihm aus strömt die mächtige Magie wie Wasser bei der Schneeschmelze vom Gipfel aus, um Kanäle und Flüsse zu bilden, deren Energie das Land durchflutet. Einer dieser Kraftflüsse fliesst noch heute unbemerkt unter der jetzigen Elfensiedlung hindurch.
Ihr Fragt euch sicher, wie es dazu kam? Nun, die Waldelfen errichteten vor langer Zeit ein kleines Dorf in der Nähe des Frostberges und pflanzten einen Samen in die fruchtbare Erde, wo sie die elementaren Energien vermuteten. Der kleine Samen wuchs innert weniger Jahre zu einem kolossalen Baum heran. Der lang ersehnte Beweis war erbracht und die Elfen begannen daraufhin ihr Dorf weiter auszubauen. Lanthir wurde über die Jahrhunderte zu einer heiligen Stätte erklärt, die es zu hüten und schützen galt. Lange fristeten die Waldelfen ihr Dasein an diesem Ort, abgeschottet von der Aussenwelt, bis die Menschen das Land erschlossen und darin einzudringen begannen. Wie Licht die Motten, zog die elementare Energie auch die Menschen in diese entlegene Gegend. Zu dem Erstaunen vieler, gelang es den beiden Rassen jedoch in Frieden miteinander zu leben. Und so kam, was kommen musste. Ihr Blut vermischte sich miteinander. Aus der Verbindung dieser beider Rassen entsprang die Sippe „Falanyel“, was in der gewöhnlichen Sprache wohl „Strandbewohner“ bedeutet. Sie gaben sich den Namen zu ehren des Karminflusses an dessen Ufer sie lebten.
Die Jahre gingen ins Land und das Schicksal stellte die Falanyel auf eine harte Bewehrungsprobe. Die Energieflüsse des Frostberges verloren aus irgendeinem rätselhaften Grund an Kraft und begannen langsam zu verblassen. Dieser Umstand sollte verheerende Folgen nach sich ziehen. Die Kälte suchte ihr Land mehr und mehr heim. Die Sommer waren nur noch von kurzer Dauer, die Winter dafür umso kälter und unbarmherziger. Viele starben in diesem ersten, grausamen Winter, dessen Name man heute vor Ehrfurcht nur noch selten in den Mund zu nehmen wagt… „Eisfang“.
Diejenigen, die überlebten, verliessen die Siedlung sogleich bei Frühlingsanfang und zogen weit nach Süden, wo sich ihre Spuren verwischten und man nie wieder etwas von ihnen hörte. Nur wenige Einwohner waren so kühn und verwegen im Dorf zu bleiben und den widerspenstigen Naturgewalten zu trotzten. Der grösste Anteil davon waren Menschen, und so verblasste das elfische Erbe mehr und mehr, bis es so verflüssigt wurde, dass beinahe nichts mehr davon übrig blieb, ausser den sanften Namen, welche die Gegend noch heute trägt. Die Falanyel lebten schon immer im Einklang mit der Natur und nahmen nur so viele Rohstoffe von ihr, wie sie zum Überleben brauchten. Um zu überleben, passten sie ihre Lebensweise der Kälte an, die in diesem eisigen Land tobte. So lagerten sie vermehrt Vorräte ein, errichteten Schutzwälle um die unerwünschten Jäger der Wildnis fern zu halten und verstärkten die Holzwände der Häuser, um dem Frost Einhalt zu gebieten. Der mächtige Baum „Mallorn“, ragt noch heute mit seinen goldenen Blüten über dem Dorf auf und demonstriert den Triumph des Menschen über die grausamen Fänge des Winters.
Gefrorene Tränen
Eingewickelt in eine dicke Decke, lag Lauriel zwischen den aufgehäuften Kissen in der grossen Holzhütte. Der Atem kam nur noch stossweise aus ihrem Mund, denn die Schmerzen setzten wieder ein, ohne Vorwarnung, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Lauriels Haare klebten strähnig an ihrer nassen Stirn, heisse und kalte Schauder liefen ihr am ganzen Körper über die Haut. Ihr Rücken bäumte sich plötzlich von den Kissen auf. Unfähig zu schreien, da die Schmerzen den Atem in ihrer Kehle gefangen hielt, konnte sie sich nur lautlos auf dem grossen Bett winden. Eine mollige Hebamme, die alle nur Tante Walla nannten, kauerte zwischen ihren zuckenden Beinen und betrachtete das Geschehen mit Skepsis. Auch Lauriels Mann Tyrus, der Stammesvater der Sippe Falanyel machte ein besorgtes Gesicht. Er wich keinen Schritt von ihrer Seite, obwohl ihn Tante Walla nur zu gerne davon gejagt hätte, da er die meiste Zeit nur im Weg stand. Aber Lauriel bestand darauf, dass er in dieser schweren Stunde bei ihr war um ihr Trost zu spenden.
Mit jeder Wehe die durch ihren Körper schoss wurde sie zunehmend schwächer und schwächer. Sie war eine Halbelfe, die einzige die noch in Lanthir lebte und ihr zierlicher und zerbrechlicher Körper schien nicht in der Lage zu sein, ein üppiges Menschenkind in die Welt zu setzen. Tyrus stand unbeirrt an ihrem Bett und hielt ihre schweissnasse Hand in der seinen fest umklammert. Er litt mit ihr, als würde er selbst diese grausamen Qualen erleiden. Mit seiner tiefen und führsorglichen Stimme sprach er ihr Mut zu.
„Halte durch, es ist bald vollbracht.“
Er berührte zärtlich ihre Hand mit seinen Lippen und der warme Kuss schien ihr Gemüt zu beruhigen. Lauriels sonst so wunderschönes Gesicht war aschfahl und von Anstrengung gezeichnet.
„Ich kann nicht mehr Liebster, mir fehlt die Kraft“…
Tyrus wollte ihr bereits widersprechen, doch Lauriel legte ihm behutsam einen Finger auf den Mund und gebot ihm mit dieser schlichten Geste inne zu halten.
„Falls ich sterben sollte, kümmere dich bitte um „Fionna“. Die Götter geben und nehmen. Ihr Wille ist uns Sterblichen unergründlich und wenn sie wünschen, dass ich meine Existenz für sie aufgebe, dann soll es so sein. Ihr Leben …für das meine.“
Tyrus sprach hastig und aufgebracht zugleich.
„Du wirst nicht sterben! Es ist noch nicht zu spät! Du musst bloss das Heilmittel von Tante Walla trinken.“ Er deutete mit dem Kopf auf die dickliche Hebamme an ihrer Seite, die noch immer stur zu ihren Füssen kauerte. Die kleine, durchsichtige Phiole mit dem grünlichen Extrakt darin, baumelte unverändert an einer Kette um ihren Hals. Ein stummes Nicken von Lauriel hätte genügt und kurz darauf hätte die Hebamme das Fläschchen mit dem Elixier an ihre Lippen geführt.
Tyrus kräftige Stimme erklang von neuem. „Die Wehen und der Schmerz würden augenblicklich vergehen. Sei doch vernünftig, wir werden neue Kinder bekommen, die dich über den Verlust von Fionna hinwegtrösten werden.“
Die Wehen kamen nun schneller und das sprechen fiel Lauriel sichtlich schwer, nur unter grosser Anstrengung würgte sie die nächsten Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich könnte nicht mit dem Gewissen weiterleben…mein eigen Fleisch und Blut getötet zu haben …nur um mich damit zu retten.“
Lauriel schrie augenblicklich auf, sie spürte den stechenden Schmerz der sie fast ohnmächtig werden liess und sich anfühlte, als werde sie in zwei Teile gerissen. Keuchend und schlaff, lag sie zwischen den Kissen. Ein Geschmack von Eisen füllte ihren Mund, als sie sich auf die zitternden Lippen biss. Sie musste sich überwinden nicht in Ohnmacht zu fallen, sonst wäre alles aus.
Tante Walla machte ein ernstes Gesicht. „Das Baby, es kommt!“ rief sie aufgeregt, aber mit fester Stimme.
„Drück“, hörte Lauriel Tante Walla jetzt brüllen, aber es klang bloss von weiter Ferne an ihr Ohr. „Ich sehe den Kopf schon! Drück, sonst verlierst du das Kind!“
Die Worte drangen trotz der Qualen in ihr Bewusstsein. Sie durfte ihr Kind nicht verlieren. Mit einem auf ihren Lippen erstarrten Schrei rollte Lauriel die Schultern von den Kissen. Sie presste die Zähne aufeinander und zwang alle Muskeln einem Ziel zu dienen, dieses Kind in die Welt zu gebären.
„Gleich ist es da… gleich ist es da…“, leierte Tante Walla vor sich hin.
Lauriel missachtete das Gemurmel der molligen Hebamme. Sie holte noch einmal tief Luft, umklammerte mit der freien Faust ein Kissen, bohrte sich mit den Fingernägeln in den Stoff und stach sich selbst ins Fleisch der Handflächen. Ihre andere Hand drückte die von Tyrus mit aller Kraft die diesem hilflosen Körper noch verblieb, als könnte diese verzweifelte Geste die unheimlichen Schmerzen lindern, die sie in diesem schrecklichen Moment empfand. Sie hatte Mühe bei Gesinnung zu bleiben und Tränen glitzerten in ihren Augen. Ihre Blicke suchten- und trafen sich, Lauriels saphirblaue Augen hielten Tyrus gefangen und liessen ihn nicht mehr los. Ihre Stimme war dünn wie ein Rinnsaal, als sie zu einer Antwort ansetzte.
„Was auch geschehen mag…ich werde dich für immer lieben.“
„Nein…bitte“, konnte Tyrus noch verzweifelt hervor stammeln, bevor Lauriel einen markerschütternden Schrei ausstiess, der die Nacht zerriss und dabei das Kind aus ihrem Leib schob. Ihr Körper sackte danach schlaff auf die Kissen zurück, wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Eine bedrückende Stille legte sich wie ein Leichentuch über das hölzerne Haus am Rande des Dorfes. Selbst die Nacht schien den Atem vor Entsetzen anzuhalten. Kein Lüftchen wehte und selbst die Tiere der Nacht gaben keinen Laut von sich.
Plötzlich durchschnitt das Weinen eines Säuglings die düstere Stimmung des Hauses. Tante Walla hielt es in ihren fleischigen Armen und wollte es sogleich dem Stammesführer weiterreichen. Tyrus hatte jedoch nur Augen für seine Frau. Sie rührte sich nicht mehr, sondern lag starr, mit weit aufgerissenen Augen, die in weite Fernen blickten und ihn nicht mehr sahen, auf den Kissen. Ihr Blick war ohne jeden Glanz, trüb, fahl und glasig. Ihre Seele hatte diesen Körper bereits verlassen und nur eine leere, zerbrechliche Hülle zurück gelassen.
Seine Beine drohten unter ihm nachzugeben. Er blickte hinauf zur Decke und versuchte, die höhnisch lachenden Götter über ihm zu erspähen. Er war tief in Gedanken versunken. Was für ein grausames Spiel trieben sie nur mit ihnen? War es ihnen etwa von Anfang an vergönnt gewesen, glücklich miteinander zu werden? Stand es etwa in den Sternen geschrieben, wie ihr aller Schicksal verlaufen sollte? Doch was ihn in diesem Augenblick am Meisten beschäftigte: Wie sollte es ihm gelingen ein Kind aufzuziehen, dass für den Tod seiner Geliebten verantwortlich war. Er wusste keine Antwort auf diese Frage. Er konnte sich das schlicht und einfach nicht vorstellen. Dennoch wollte er sich überwinden, war es doch Lauriels letzter Wunsch und den galt es zu erfüllen, um jeden Preis. Er bückte sich über ihr lebloses Gesicht und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Sie war jetzt an einem besseren Ort, an dem sie keine Schmerzen und keine Trauer mehr empfinden würde. Tyrus rief ihre letzten Worte noch einmal in sein Gedächtnis. „Ich werde dich für immer lieben“, hallte es in seinem Kopf wieder und immer wieder, als würden die Götter mit schallendem Gelächter auf ihn nieder blicken, ihn verspotten und mit Freude dabei zusehen, wie sein Herz in tausend Stücke zerrissen wurde. Sein Leben schien in diesem Moment bedeutungslos, wie ein winziges Sandkorn in der gewaltigen Sanduhr der Zeit. Tyrus öffnete die Augen und musste feststellen, das Tränen seine Sicht trübten. In seinem ganzen Leben hatte er keine einzige Träne vergossen, für nichts und niemanden. Doch in diesem Moment, rannen sie ihm in Strömen über die Wangen, bahnten sich ihren Weg gen Boden, wo sie auf Lauriels leblosen Körper fielen und ihre Lippen besprenkelten, winzigen Regentropfen gleich. Stumm rief sein Herz zurück. „Ich werde dich auch für immer lieben.“
Die Kriegerin von Lorthan
10 Jahre waren seitdem vergangen und Fionna wuchs unter den gütigen Augen ihres Vaters zu einem lebensfrohen, verträumten und entdeckungsfreudigen jungen Mädchen heran. Zu Beginn hatte es Tyrus sehr viel Überwindung gekostet, doch schliesslich hatte er das verspielte Mädchen doch noch tief in sein Herz geschlossen. Ein Erbe würde ihm wohl für immer verwehrt bleiben, denn nur ein männlicher Falanyel wurde das Privileg zu Teil „Cona“, Anführer des Dorfes zu werden. So war es Sitte und Brauch. Ganz egal wie sehr er seine Tochter auch liebte, sie würde ihm nie das geben können, was ihm ein Sohn hätte bescheren können, einen Nachfolger, der an seiner Stelle die Falanyel zu Ruhm und Ehre führen würde. Nichts desto trotz zog er Fionna mit all der Wärme auf, die ein Vater seinem Kind mit auf den Weg geben konnte. Entgegen der Tradition liess er Fionna sogar am Wissen der Falanyel teilhaben, das üblicherweise nur von Vater zu Sohn überreicht wurde. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Fionna in absehbarer Zeit heiraten und einen Sohn gebären würde, den sie mit dem geheimen Wissen ihrer Familie zu einem würdigen Cona erziehen konnte. Doch noch war die Zeit nicht reif dafür. Fionna würde ihren Ehemann schon noch erwählen, wenn er ihr über den Weg laufen würde. An Schönheit schien es ihr ja schliesslich nicht zu mangeln. Mit ihren langen, goldblonden Haaren, den smaragdgrünen Augen und dem Gesicht mit den feinen Zügen, die vor Liebenswürdigkeit nur so strahlten, schien sie jeden Jüngling in ihren Bann zu ziehen.
Schon früh lehrte Tyrus sie das Jagen und den Gebrauch des Speers, seiner bevorzugtesten Waffe. Tyrus war einer der fähigsten Krieger von ganz Lanthir und dazu noch ein begnadeter Stratege, weshalb er den Titel „Cona“ zu Recht trug. Im Gegensatz dazu war Fionna eine eher ungeschickte Kämpferin. Den Speer überhaupt aufzuheben, schien für sie zu Beginn ihrer Laufbahn eine Sache der Unmachbarkeit. Und dann sollte sie ihn auch noch gegen Feinde einsetzen! Das war doch unmöglich!
Sehr viel Zeit und Geduld wurde benötigt, bis es ihr dann doch noch gelang, die Kraft und den Willen aufzubringen um diese tödliche Waffe anzuheben. Ab diesem Zeitpunkt wird sich wohl selbst der nachlässigste Bürger in Sicherheit gebracht haben, wenn ihm sein Leben lieb war. Denn sobald Fionna der erste Schritt zum Erfolg glückte, taumelte sie mit dem Speer unkontrolliert hin und her und wirbelte damit wild in der Gegend herum. Tyrus wäre beim ersten Mal beinahe enthauptet worden, hätte er nicht schnell gehandelt und sich unter dem wuchtigen Hieb hinweggeduckt. Das zweite Mal war er nicht mehr so leichtsinnig, nahm genügend Abstand und warnte vorbeilaufende Passanten von den Speerkünsten seiner Tochter, um keine üblen Überraschungen mehr zu erleben. Von da an nannte er sie jedes Mal neckisch „die kleine Windmühle“, wenn sie den Speer in den Händen hielt. Fionna brachte nach den peinlichen Vorführungen nur ein verlegendes Lächeln zustande und versprach ihm immer wieder von neuem, dass sie üben werde und bald so gut sein werde wie er. Darauf konnte Tyrus nur leicht den Kopf schütteln. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen verwuschelte er ihr dann immer verspielt die Haare, worauf sie kichernd davonrannte, ihren Träumereien nachjagend. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es ihr beim ersten Kampf ergehen würde.
Seine Tochter war vielleicht keine begabte Speerkämpferin, aber dafür hatte sie ja ausser ihrem Ehrgeiz noch andere Vorteile. Denn was sie mit dem Speer nicht zu Stande brachte, machte sie mit dem Bogen mehr als wieder gut. Schon mit 10 Jahren traf sie beinahe jedes Ziel, dass man ihr angab ohne grosse Mühe oder Anstrengung und auf das war Tyrus ganz besonders stolz. Nur selten kam es vor, dass Kindern von 10 Wintern das Privileg zu Teil wurde sich einen Kriegerzopf mit den bekannten Mustern zu flechten. Meistens geschah dies erst im Alter von 12 Jahren. Doch Fionna hatte zu diesem Zeitpunkt bereits alle Prüfungen mit Bravour bestanden. Abgesehen von den verflixten Speerprüfungen. Es wird wohl noch eine menge Zeit vergehen, bis „die kleine Windmühle“ diese widerspenstige Waffe unter ihre Kontrolle bringt und ihre Auszeichnung zur Kriegerin erhält, um danach ihren rechtmässigen Platz in der Sippe einzunehmen.
Der geheimnisvolle Unbekannte
Fionna eilte durch die weiten Baumreihen und betete im Stillen, die Flucht möge gelingen. Die aufgewirbelte Erde in diesem Teil des Hains hatte ihr die geflickten Kleider beschmutzt, und sie war so schnell gerannt, dass sie laut keuchte. Nun blieb sie kurz stehen um zu lauschen. Von den Verfolgern war nichts zu hören. Befriedigt verlangsamte sie ihren Schritt und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. „Das war kapp gewesen!“
Wie schon so oft, hatte sie sich mal wieder während einer harten Übungsstunde vom Unterricht davongestohlen um ihren Tagträumen nachzugehen und dabei gegen üble Räuber anzutreten. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wie weit sie sich schon von der Siedlung entfernt hatte.
Ausserhalb des Dorfes roch die Luft frisch gewürzt vom Duft der Pinien und des Hochlandmohns, und an diesem Tag liess eine warme Brise bereits schwach den weiteren Verlauf des sonnigen Tages erahnen. Flink wie ein Wiesel jagte sie unbeirrt über die weiten Felder von Lanthir, durch die Obsthaine, die ihr Ende erst am Fusse der Bergketten zu finden schienen. Hier draussen gab es immer etwas Neues zu entdecken. Sie hatte in der Landschaft des Vorgebirges viele herrliche Plätze ausfindig gemacht: ein Kaninchengehege, wo ihr die Weibchen und Männchen frei aus der Hand frassen; einen Ameisenhügel, der ihr bis zum Kopf reichte; einen vom Blitz getroffenen Baum, der im Innern hohl war; ein Gelände mit Flechtenüberzogenen Steinen, die zu einem längst aufgegebenen Friedhof gehörten. Oft kehrte sie dorthin zurück, erschöpft von einem anstrengenden Tag, von Dornen zerkratzt und mit Schlamm beschmutzt, ein breites Lächeln im Gesicht. Doch heute hatte sie andere Pläne. Fionna genoss das Kitzeln der Sonnenstrahlen auf ihrer hellen Haut und rannte wie vom Teufel gejagt durch die zahlreichen Reihen von Obstbäumen. Abrupt machte sie halt und musste eine kurze Verschnaufpause einlegen vom ewigen Rennen. Sie war schon immer ein kleines Energiebündel gewesen und wenn sie mal eine Rast einlegte, hatte das meistens nichts Gutes zu bedeuten. Sie beschirmte die Augen mit der Hand und blinzelte gegen die tiefstehende Sonne an. Als sie nach oben blickte, sah sie etwas, dass ihr Herz mit einem Mal höher schlagen liess. Die mittäglichen Sonnenstrahlen durchbohrten das Laubdach und fielen leuchtend hell auf ein Prachtexemplar von einem Apfel von ausserordentlicher Grösse, beinahe so gross wie eine kleine Melone. Ach, wie sehr Tante Walla diese grossen, saftigen Äpfel für ihre Strudel schätzte! Sie wäre sicher mehr als erfreut, wenn Fionna mit dieser Trophäe in ihrer Hand zurückkehren würde. Walla würde einen leckeren Strudel damit zubereiten. Sie stellte sich vor, wie der Duft des warmen Apfels mit Zimt einem frischen Stück Strudel entströmen würde. Sie hüpfte fröhlich zum Stamm des Apfelbaumes, krempelte die Ärmel ihres Leinenhemdes hoch und machte Anstalten diesen zu erklettern, als plötzlich ein eigenartiges Rascheln durch das Dickicht der Büsche dran. Sie wendete ihren Blick vom strahlenden Himmel ab und durchsucht den Obsthain nach der Ursache dieses Geräusches. Ihre Hand dabei immer noch in der Schwebe haltend, biss sie sich verunsichert auf die Unterlippe. Ein Kloß hatte sich in ihrer Kehle gebildet und sie schluckte schwer. Vielleicht wurde sie in diesem Moment von jemandem beobachtet? Sie glaubte sogar ein Augenpaar auf ihrem Körper haften zu spüren. War dieser Baum vielleicht das Eigentum eines Einsiedlers, der hier, in diesem Augenblick auf der Lauer lag um die räuberischen Nachbarskinder, die seine Äpfel stehlen wollten auf frischer Tat zu ertappen? Doch aus irgendeinem Grund wusste Fionna, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, obwohl ihr das in diesem Moment um einiges lieber gewesen wäre. Die Natur schien auf einmal in tiefes Schweigen versunken zu sein. Eine eigenartige Stille hatte sich wie schleichendes Gift über den Hain gelegt und selbst die Vögel in den Baumkronen hatten aufgehört zu zwitschern. Ein kalter Windhauch fegte durch die Baumkronen und liess die Blätter der Bäume rascheln wie von Geisterhand berührt. Fionna bekam eine Gänsehaut und die blonde Haarsteppe auf ihren Armen richtet sich schlagartig auf.
„Ist hier jemand!?“ Rief sie etwas verängstigt in die Ferne und platzierte sich währenddessen hinter den knorrigen und wulstigen Stamm des Apfelbaumes, als könnte dieser ihr einen sicheren Zufluchtsort bieten vor dem Grauen, das sie erwartet. Die Hitze schien beinahe greifbar in der Luft zu liegen, welche schwer und süß vom Duft der Blumen war. Der warme Windstoß schien beinahe zu knistern vor Spannung. Etwas Bedrohliches lag in der Luft, das mussten auch die zahlreichen Vögel in den Baumkronen bemerkt haben. Sie hielten ihre kleinen Körper ganz ruhig und gaben keinen Laut von sich. Sie schienen sich vor irgendetwas zu fürchten. Aber vor was?
Plötzlich erhob sich ein schrilles Heulen um sie herum, dessen Echo durch die Berge hallte. Fionna zuckte augenblicklich zusammen, denn sie kannte das Geheul. Sie hatte es manchmal nachts gehört, als es aus dem tiefen Wald ertönte. Ein Wolf schrie nach Blut!
Die Luft lag wie ein knisterndes Seidentuch über dem Obsthain, von einer Mischung aus Spannung und Aufregung erfüllt. Fionna spannte die Muskeln spürbar an. Sie traute sich jedoch nicht zu rühren. Zu gross war die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte und ihren Mund austrocknete. Diese mächtigen Jäger waren doch meistens nur nachts unterwegs. Welchem üblen Zauber hatte sie es zu verdanken, dass diese Bestie ausgerechnet zu dieser Tageszeit, an diesem Ort, in der Nähe von Lanthir herumstreifte. Fionna überlegte verzweifelt, ob sie einfach losrennen sollte, quer über den Hain auf ihr Dorf zu, vielleicht hätte sie dann eine kleine Aussicht auf Erfolg um der Ursache dieser Stille zu entgehen. Doch wenn es sich wirklich um das handelte, was sie vermutete, würden sie nicht einmal ihre flinken Beine und ihre Wendigkeit vor diesem Untier bewahren können. Kein Mensch hatte jemals ein Wettrennen gegen diese dunklen Jäger der Nacht überlebt.
Doch wie sich herausstellen sollte, war es bereits zu spät um wegzurennen. Da war das Rascheln wieder, und das nicht weit von ihr entfernt. Fionna zuckte augenblicklich zusammen, ihr Atem kam nur noch stoßweise und der Angstschweiß stand auf ihrer Stirn.
Ein Geschöpf mit dichtem, schwarzem Pelz stapfte vor ihr aus dem Gebüsch. Es hob den Kopf, um sich Fionnas Körperhöhe anzupassen, und seine Klauen gruben sich tief in den trockenen Boden. An den Schultern des Untiers wölbten sich dicke Muskeln. Der Wolf öffnete die Kiefer, um Reihen spitzer Zähne zu entblößen. Er heulte sie an, und sein Schrei war eine Herausforderung an die Stille, die sich unbewusst wie eine Schlange um die beiden Kontrahenten gelegt hatte.
Fionna stolperte rückwärts, als der Wolf schrie und zum Sprung ansetzte. Lautes Gebrüll brach aus der Kehle des Wolfs hervor. Fionna hatte noch nie einen solchen Laut von einem Tier vernommen. Bei dem Geheul erstarrte das Blut, und das Herz gefror. Die rasiermesserscharfen Zähne, die dolchspitzen Krallen und die pure Bosheit und Wildheit des Tieres liessen kaum Zweifel zu, wer diesen Kampf als Sieger überstehen würde.
Fionna war vor Angst wie gelähmt. Sie glaubte bereits zu spüren, wie der Tod seine Finger nach ihr ausstreckte.
Doch ihrem Instinkt gelang es sich der Starre zu widersetzen, die ihren Körper gefangen hielt und die merkwürdige Lähmung zu überwinden. Eine Hand schnellte nun abwesend auf einen der dicken Zweige zu und geschmeidig schwang sie sich hinauf auf einen dicken Ast. Offensichtlich tat sie dies nicht zum ersten Mal. Ihre Bewegungen geschahen so schnell und flüssig, dass man ihr mit dem Auge kaum folgen konnte. Sie wiederholte diesen Vorgang erneut, bis sie auf einer angemessenen Höhe angelangt war um den Fängen der Bestie zu entkommen. Auf einem festen Ast stehend, umklammerte sie den Stamm des Baumes mit beiden Händen, um nicht in ihr Unglück zu stürzen. Das Ungetüm schritt unbeirrt auf den Apfelbaum zu und fletschte die Zähne bei ihrem Anblick. Fionna konnte nicht anders als laut auf zu schreien. Und in diesem Moment geschah das Unfassbare. Der Wolf begann vor ihren Augen zu zerfliessen! Der Körper und die Knochen bogen sich, die Schnauze mit den rasiermesserscharfen Fängen bildete sich zurück, während die Pranken zu Händen auseinander wuchsen und sich das dichte Fell zurück in die Poren des Fleisches zog. Fionna stockte der Atem bei dem Anblick der sich ihr nun offenbarte. Ein kleiner Elf, vom äusseren wohl kaum älter als sie, kauerte im hohen Gras, in schlichte Wolle gekleidet. Er war etwas muskulöser gebaut als die Elfen von denen man ihr in den zahlreichen Geschichten erzählte und sein Haar hatte die Farbe einer Mondlosen Nacht. Der Elf musste sich den Bauch halten vor Lachen. Anscheinend schien er es zu mögen, Streiche zu spielen.
„Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen!“ jauchzte er mit heiterer Stimme und wälzte sich dabei auf dem trockenen Boden hin und her in schallendes Gelächter vertieft.
Fionnas Atem ging schwer, sie musste sich zuerst von dem Schock erholen. Im Gegensatz zu ihm, fand sie diese Aktion ganz und gar nicht lustig. „Na warte!“, schrie sie ihm mit lauter Stimme entgegen und im nächsten Moment flog der riesige Apfel, den sie zuvor noch mit so grossem Interesse bewundert hatte, auf den Elfen zu und traf ihn mit voller Wucht am Kopf. Ein lautes „Aua!“ erklang nach dem Aufprall. Weitere Äpfel folgten dem Beispiel des ersten und der kleine Elf hielt nun schützend die Arme vor sein Gesicht. „Hey, aufhören. Schon gut, schon gut! Du hast gewonnen.“ Erst nach diesen Worten ebbte der Apfelsturm ab.
Fionna stiess sich daraufhin kräftig mit den Füssen vom Baum ab und kam leichtfüssig wie eine Katze vor ihm auf dem Boden auf. Sie betrachtete den Fremden mit grosser Neugier, hatte sie doch noch nie zuvor in ihrem Leben einen Elfen zu Gesicht bekommen. Ungläubig rieb sie sich die Augen. Nein, ihre Sinne hatten sie nicht getäuscht. Es handelte sich hierbei tatsächlich um einen Elfen! Die Spitzen Ohren liessen keinen Zweifel zu. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, starrte sie diese verschwörerisch an und sagte verspielt. „Darf ich die mal anfassen?“ Dabei wies sie mit dem Zeigefinger auffällig auf die ungewöhnlichen Ohren und blickte ihn mit grossen Augen an. Der Elf verschränkte jedoch bloss die Arme vor der Brust. „Natürlich nicht!“, kam es etwas gehässig von ihm. „Ihr Lorthiner Mädchen seid schon irgendwie komisch….“ Fionna reichte ihm daraufhin mit einem Schmunzeln auf den Lippen ihre Hand, und äusserte sich in heiterem Tonfall: „Ich bin Fionna und wer bist du?“ Ohne lange darüber nachzudenken ergriff er diese und zum ersten Mal nach dem Apfel-Angriff war wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen.
„Tandimiel“, gab er mit einem schelmischen Augenzwinkern zurück.
Kurze Zeit später lagen sie nebeneinander im Gras und betrachteten die Wolken, die am blauen Himmel an ihnen vorbei zogen und die verschiedensten Formen bildeten. Der neugierige Elfenjunge fragte sie zugleich die verrücktesten Sachen aus. Zum Beispiel, warum die meisten Lorthiner ihr Haar ausgerechnet zu einem Zopf geflochten trugen. Fionna konnte daraufhin nicht anders, als ihren Zopf auffällig nach hinten zu schnippen. Mit stolzgeschwellter Brust gab sie ihm zu verstehen, dass dies das Zeichen eines wahren Kriegers sei. Es gab zahlreiche Arten seinen Zopf zu flechten und jede Art hatte eine andere Bedeutung. Wenn Federn oder anderer Schmuck in das Haar geflochten wurden, war dies das Zeichen, dass derjenige in einer grossen Schlacht mitgekämpft und überlebt hatte. Weitere Fragen folgten, bis er zu guter letzt auf ihre leicht elfischen Züge zu sprechen kam. Ausser den Ohren sah sie einer Elfe wirklich zum verwechseln ähnlich. Doch die schmeichelnde Bemerkung verfehlte leider ihr Ziel und Fionna verfiel in eine leichte Melancholie. „Meine Mutter war eine Halbelfe“, gab sie mit schwerer Zunge zu verstehen und senkte dabei in stummen wehklagen den Blick auf den weichen Boden. Man spürte wie die Erinnerungen die sie zu verdrängen versucht hatte wieder in ihr Bewusstsein aufstiegen, dunklen Schatten gleich die sie niemals ruhen lassen würden. Tandimiel bemerkte jedoch rasch, was er angerichtet hatte und versuchte sein Bestes um die Situation noch zu retten. „Nein, sei bitte nicht traurig. Ein Lächeln steht dir viel besser! Du darfst auch mal an meinen Ohren ziehen wenn dich das wieder glücklich macht.“ Auf seine aufmunternde Anspielung hin fing Fionna sogleich wieder an zu lächeln und der Kummer war wie weggeblasen. Nun war es an ihr ihm einige Fragen zu stellen. Es gab da etwas, das ihr schon lange auf der Zunge lag. „Was sucht ein Elf denn so weit im Norden?“ Seit Ewigkeiten waren keine Elfen mehr in Lanthir gesichtet worden und mit ihrer Mutter verstarb der letzte Rest des elfischen Erbes an diesem Ort. Im weiteren Gespräch erfuhr sie dann, dass Tandimiel ein Wanderdruide war, der ferne Länder bereisen wollte. Sein ehemaliger Meister hatte ihm diesen Ort vor seiner Abreise empfohlen. Kraftlinien würden anscheinend durch das Tal und unter dem Dorf entlang laufen, deren Magie man leicht für seine Zwecke nutzen konnte. Fionna wusste nun, warum es ihm gelang sich in die verschiedensten Tiergestalten zu verwandeln, aber sie hatte noch nie etwas von diesen Kraftlinien gehört. Wie kam es, dass ausgerechnet dieser Elf davon wusste?
„Du glaubst mir nicht? Na dann pass mal auf!“ Mit Spannung verfolgte Fionna, wie sich der Elfenjunge aufsetzte um sein Können unter Beweis zu stellen. „Kann er etwa Gedanken lesen?“, schoss es Fionna durch den Kopf, bevor sie sich ebenfalls aufsetzte, um gebannt jeder noch so kleinen Bewegung von ihm zu folgen. Tandimiel legte eine Hand behutsam auf den Boden und begann eine wunderschöne Melodie vor sich hin zu summen, die Fionna schmelzen liess wie Eis an einem heissen Sommertag. Kurze Zeit später wurde sein Kopf jedoch feuerrot vor Erschöpfung und das Summen kam nur noch unter großer Anstrengung zwischen seinen Lippen hervor. Anscheinend war er noch nicht besonders geschult darin sich die Magie dieses Landes eigen zu machen. Winzige Schweißtropfen perlten jetzt auf seiner Stirn und bahnen sich in dünnen Rinnsalen ihren Weg gen Boden. Sein Summen verstummte abrupt und er hob seine Hand an. Wo diese vor kurzem noch verharrt war, gedieh nun eine herrliche Knospe, die sich langsam öffnete und sich mit ihren satten, grünen Blüten der Sonne entgegenreckte. Ohne sie zu beschädigen zupfte Tandimiel die Blume aus der weichen Erde und überreichte sie Fionna. „Sie passt zu deinen Augen“. Ein schüchternes Grinsen huschte über sein Gesicht. Fionna starrte die Blume fasziniert an und schlug dann scheu die Augen nieder. Sie nahm die Blume mit einer Unschuldsmiene entgegen und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Dem jungen Elf schoss augenblicklich das Blut in den Kopf und Fionna konnte es nicht lassen und musste darüber spassen. „Dein Kopf könnte man jetzt leicht mit dem Apfel verwechseln, den ich dir vor kurzem noch angeworfen habe.“ Tandimiels Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln und er musste sich verlegen am Hinterkopf kratzten.
Ihre Freundschaft gedieh prächtig, denn sie hatten viel gemeinsam und teilten ihre tiefe Verbundenheit gegenüber der Natur, deren Geschenke sie schon immer zu schätzen wussten.
Fionna bat ihn über den Winter doch bei ihnen zu bleiben, damit er sich länger seinen Studien widmen konnte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die eisige Kälte Einzug in ihr Tal fand. Von Anbeginn der Zeit war es der Fall, dass die Pfade, die in ferne Täler führten über diese Jahreszeit zugeschneit und dadurch unbefahrbar wurden. Ihr Tal war dann bis zum Frühlingsbeginn von der übrigen Welt abgeschnitten. Aber in dieser trübseligen Jahreszeit fand ebenso das grösste aller Feste statt, das alljährliche Mittwinterfest, das gehalten wurde um die bösen Geister des Nordens zu vertreiben. Die Frauen von Lanthir würden kurz davor beginnen die Gänse zu mästen, damit sie auf die letzten Tage noch etwas Fett ansetzten. Met wurde in grossen Wannen angesetzt, und der Duft von Honigküchlein hing dann über dem ganzen Dorf. Das durfte er doch auf gar keinen Fall verpassen! Zuerst glaubte sie, Tandimiel würde sie für verrückt erklären. Immerhin würde er einen ganzen Winter lang nichts anderes zu Gesicht bekommen als die schneebedeckten Berge von Lanthir. Doch wider ihrer Erwartungen nahm er das Angebot an, mit einem verstohlenen Grinsen auf den Lippen.
Tyrus hatte zunächst etwas dagegen, gab es nun noch ein Maul mehr zu stopfen. Doch die kleine Fionna hatte ihn bald überredet mit ihrer herzlichen Art und so gab er ihrem Drängen nach. Tandimiel verweilte den ganzen Winter in Lanthir und lehrte sie die Tiere zu verstehen, das Flüstern der Bäume zu entschlüsseln, in ihren Gesang einzustimmen und einige kleinere Zauber zu wirken um den Körper für kurze Zeit zu stählen und ausdauernder zu machen. Man entzog dabei der Natur Kraft, die der Körper dann beständig wieder abgab, um das Gleichgewicht zu wahren. Fionna lehrte all das jedoch nur sehr schleppend, im Gegensatz zu Tandimiel, der dazu nur ein Bruchstück ihrer Zeit benötigt hatte. So sagte er es zumindest. „Lorthiner sind einfach nicht für Magie geschaffen“, musste er ihr immer wieder vorhalten, worauf ihm Fionna jedes Mal scherzhaft den Ellbogen in die Seite stiess. „Man kann alles schaffen, wenn man es nur will.“ Der Winter neigte sich dem Ende zu und Tandimiel verliess Lanthir, nicht jedoch ohne Fionna ein Versprechen zu geben, jeden Winter wiederzukehren um mit ihr Zeit zu verbringen. Und er hielt, was er versprach.
Abschied
Die Jahre gingen ins Land und Fionna wuchs zu einer hübschen, jungen Frau heran. Sie sah ihrer Mutter immer ähnlicher. Umrahmt von goldblonden Locken waren Fionnas grüne Augen nun mit glänzendem Gold gesprenkelt. Die hohen Wangenknochen luden dazu ein, mit dem Finger den Bogen nachzufahren, der über das wohlgeformte Kinn zum schlanken Hals führte. Ihre Haut hatte die Farbe sanften Mondlichts. Und die zarten Lippen waren stets zu einem kleinen, verschmitzten Schmollen geöffnet.
Ihr Körper war für ihr Alter bereits sehr weiblich gebaut und schön anzusehen. Doch nur selten offenbarte sie ihre Reize, hielt sie diese doch meistens unter ihrer schlichten Lederrüstung verborgen. So sehr sie sich vom Äusseren auch verändert haben mochte, in gewisser Hinsicht wird sie wohl immer die Gleiche bleiben. Denn obwohl sie nur 16 Winter zählte, hatte sie das Tagträumen und phantasieren immer noch nicht richtig aufgeben können. Ihr Vater glaubte, selbst wenn sie 90 Jahre alt wäre, würde sie sich immer noch wie ein 10 Jahre altes Mädchen verhalten, was wohl auch der Wahrheit entsprach.
Fionna hatte mittlerweile die Speerprüfungen bestanden. Mehr schlecht als recht, wie man hier jedoch hinzufügen sollte. Ihre Lehrmeister drückten wohl ein Auge zu bei ihren erbrachten Leistungen, sahen sie doch wie ihr Vater bei jeder ihrer bislang misslungenen Prüfungen dabei war und sich die Fingernägel abkaute vor Aufregung und Anspannung. Obwohl sie Fionna immer noch als eine Gefahr für die Gesellschaft betrachteten, hatte sich das Mitleid doch noch durchgesetzt in den steinernen Mienen der Lehrmeister und so liessen sie Fionna bestehen. Sie wurde jetzt zu einem vollwertigen Mitglied ihrer Sippe ernannt, was sie selbst mit unglaublichem Stolz erfüllte.
Der Winter stand kurz vor der Tür und Fionna wartete immer noch vergebens auf das Erscheinen ihres treuen Freundes. In der Krone des grossen Baumes „Mallorn“ harrte sie nun bereits einige geschlagene Stunden aus. Die Abendbrise zauste dabei an ihrem langen, blonden Haar. Sie strich sich Gedankenversunken die verirrten Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, aus den Augen. Von hier oben war es ihr möglich das ganze Tal zu überblicken und so würde sie ihn mit Sicherheit erkennen, wenn er sich denn zeigen würde. Fionna erinnerte sich freudig an ihre früheren Treffen zurück. Das gleiche Ritual schien sich immer und immer wieder von neuem zu wiederholen. Jedes Mal, wenn er in ihrem Dorf angekommen war, schlenderte er zu dem Baum hinüber und winkte ihr mit einem herzerwärmenden Lächeln auf den Lippen zu, es gab nie eine Ausnahme. Fionna musste zugeben, dass er sich in all den Jahren zum positiven verändert hatte. Er war nun ein kräftiger, junger Mann, der vor Energie nur so strotzte. Doch seine Streiche wird er wohl nie ganz sein lassen können. Fionna erinnerte sich mit einem Schmunzeln daran, wie er einmal in Bärengestalt quer durch das ganze Dorf gerannt war und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzte. Krieger wurden ausgesandt, um den tückischen Bären zu erlegen, aber dieser war schon längst auf und davon und das einzige was sie fanden, war ein spitzbübischer Elf. Noch heute bringt Fionna diese Geschichte zum lachen, auch wenn er von ihrem Vater daraufhin ziemlichen Ärger bekommen hatte, das war es immerhin wert. Aber seinen Sinn für Humor war nicht das Einzige, was sich über die Jahre verbessert hatte. Die Magie, welche in seinem Körper inne wohnte, hatte sich zu ihrem Erstaunen unglaublich verstärkt seit dem letzten Treffen. Seine Fähigkeiten waren so weit entwickelt, dass er bereits in der Lage war einen ganzen Rosenbusch zu ihrer Begrüssung erblühen zu lassen.
In all den Jahren waren sich die Beiden immer näher gekommen, doch wie kleine Kinder, gelang es ihnen nicht dem Gegenüber ihre Gefühle zu gestehen. Doch diesmal, hatte sich Fionna vorgenommen, würde alles anders laufen. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen und sich die Worte, die sich tief in ihrem Herzen verborgen hatte, sorgfältig auf der Zunge zurecht gelegt. Jemandem seine Liebe zu gestehen war wirklich viel schwieriger, als einen Kampf mit dem Speer zu gewinnen. Doch diesmal würde sie nicht kneifen. Nein, diesmal nicht! Die Worte würden nur so aus ihrem Mund purzeln, wenn Tandimiel erst einmal bei ihr wäre. Sie war mehr als bereit. Doch wo blieb er?! Ein Liebesgeständnis ohne den Geliebten wäre doch mehr als lachhaft. Weit und breit war keine Spur von ihm zu sehen und der Abend dämmerte bereits. Er kam doch immer am Tag vor der Winterwende in ihrem Dorf an, warum nur heute nicht? Selbst sie konnte erahnen, dass dies kein gutes Omen sein konnte. Der Wind rauschte in den Trockenen Zweigen und wehte ihr eine ihrer goldblonden Haarsträhnen ins Gesicht. Nachdem sie die widerspenstige Strähne zurückgestrichen hatte, schweifte ihr Blick unruhig über die weite Landschaft und versuchte jede noch so kleine Bewegung ausfindig zu machen. Was war bloss los? Auf ihn konnte man sich doch immer verlassen. Sie konnte und wollte einfach nicht mehr länger warten. Fionna war noch nie besonders geschickt darin sich in Geduld zu üben und so hatte sie vor ein bisschen Magie anzuwenden, um das lang erwartete Treffen ein bisschen zu verkürzen. Die Magie, die Tandimiel sie in all den Monaten lehrte, hatte eine tiefe Verbundenheit zwischen den Wesen dieser Welt zur folge, wie ein unsichtbares Band, das niemals zerreissen würde und alle aneinanderkettet. Durch dieses Band war es ihnen möglich eine empfindliche Verbindung zu den einzelnen Individuen aufzubauen, indem sie die Natur als Sprachrohr für ihre Worte benutzten um dem Empfänger seine Gedanken mitzuteilen. Genau das, hatte Fionna in diesem Moment vor. Wenn Tandimiel irgendwo da draussen war, würde ihr die Natur helfen ihn zu finden.
Langsam schloss sie die Augen und schickte ihre Sinne aus. Sie schob die erdigen Gerüche der Umgebung fort von ihrer Nase und beachtete die sanfte Brise nicht, die über ihre weichen Wangen strich. Sie suchte nicht in sich, sondern griff nach dem Horizont und fand schliesslich etwas…
Fionna erstarrte augenblicklich. Vielleicht war es nur eine Einbildung oder Wunschdenken, doch für die Dauer eines Atemzugs vernahm sie die vertraute Berührung; ein Kribbeln hinter den Ohren, ein leises Läuten, als ob Wind durch Kristalle wehte. Dann spürte sie, wie er nach ihr griff, auftauchend wie ein Ertrinkender…
„Ich brauche dich“, die Worte schienen in ihrem Kopf zu hallen, wie ein nicht enden wollendes Echo. So schnell, wie die Worte aufgetaucht waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Als wären sie von einer unbeschreiblichen Leere verschluckt worden. Fionna erschauderte innerlich. Diese Stimme war ihr nur allzu gut bekannt. Die melodische Stimme mit dem leichten, schwingenden Akzent darin liess keine Zweifel offen. Es musste sich hierbei um ihren vermissten Freund Tandimiel handeln. Unruhe ergriff ihr Herz. Sie versuchte mit ihren Sinnen weiter vorzudringen, um zu erfahren wo er sich befand, doch der Kontakt war bereits abgebrochen und schien sich nicht wieder herzustellen. Langsam aber beständig fand sie wieder in die Realität zurück. Aus langer Erfahrung war ihr bewusst, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte. Was war wohl mit ihm geschehen? Sie wusste keine Antwort auf ihre Frage. Fest stand nur, dass er versucht hatte ihr eine Nachricht zukommen zu lassen und daran gescheitert war. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, ein Gefühl, als ob jemand ihr Herz in der Hand zusammendrücken würde, um es langsam zu ersticken. Mit gesenktem Kopf sass sie da, ein leichtes Kribbeln hatte sich über ihre Haut ausgebreitet. Die Ruhelosigkeit nagte an ihr wie ein nicht enden wollender, stechender Schmerz. Ihr ganzer Körper wehrte sich dagegen still zu sitzen. „Auf was wartest du? Du darfst keine Zeit mehr verlieren!“ Schallte ihr eine innere Stimme entgegen, wie ein geisterhafter Wind. Fionna wusste, dass diese Worte die Wahrheit sprachen.
Geschmeidig erhob sich Fionna aus ihrer Sitzposition und kletterte geschickt den Bau hinunter, ohne auch nur einen Ast oder ein Blatt abzubrechen.
So schnell sie konnte, eilte sie zu ihrem Vater in die Holzhütte am Rande der Siedlung und erzählte ihm mit hastigen Worten von Tandimiels Entschwinden. Tyrus war bewusst, was seine Tochter für diesen schelmischen Elfen empfand. Er kannte sie doch schon von Kindesbeinen an und vor ihm konnten sie ihre Gefühle nicht verbergen. Fionna war jetzt im heiratsfähigen Alter und wäre jetzt eigentlich in der Lage sich ihren Ehemann auszusuchen. Doch Tyrus hoffte innerlich, dass Fionna sich damit noch ein bisschen gedulden würde, konnte er sich ganz im vertrauen, doch einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, gerade diesen Elf als Nachfolger und Schwiegersohn zu bekommen. Wie seine Tochter hatte er nur Unsinn im Kopf. Aber das spielte doch in diesem Moment gar keine Rolle. Tyrus hatte oft genug gesehen, wie glücklich Fionna in Tandimiels Nähe war und wie sie die Welt dann mit so viel Freude und Heiterkeit versah. Umso mehr schmerzte es ihn nun, in das enttäuschte Gesicht seiner Tochter zu blicken.
„Er wird schon noch kommen, er hat sich ganz sicher nur verspätet." Gab er mit einer rauen aber zutraulichen Stimme zu verstehen.
Fionna schaute ihn daraufhin nur ungläubig an.
„Nein, er kommt nicht mehr. Ich kenne ihn, er würde sich nie verspäten. Selbst wenn die Welt untergehen würde. Es muss ihm etwas zugestossen sein.“
Sie wirkte sehr betrübt. Sie wusste, dass Tandimiel Abenteuer liebte und die ganze Welt bereisen wollte. Kein Risiko war ihm zu gross oder zu gefährlich. Bei diesem Gedanken, schoss ihr unwillkürlich ein Name durch den Kopf …„Gaeyrit." Wie ein unheilvolles Flüstern suchte er sie heim, schwebte über ihr wie eine Schar von Raben die bereit waren auf ihr Opfer nieder zu stürzen. „Er wird doch nicht… nein so etwas Törichtes würde er nie tun. Oder doch?“
Die Ungewissheit liess sie nicht zur Ruhe kommen. Sie konnte ihr Herz nicht weiter verleugnen. Sie würde zu ihm halten, was auch geschehen möge. Und wenn er Hilfe bräuchte, würde sie ihn sicherlich nicht im Stich lassen. Ihr Blick war in weite Fernen gerichtet und sie schien darin zu versinken. Irgendwo da draussen war er, ganz auf sich alleine gestellt. Sie wollte sich nicht ausmalen was ihm widerfahren sein könnte. In Fionnas Hals hatte sich ein Kloss gebildet, sie atmete ein, als führe sie sich dadurch die zum Weitersprechen notwendige Energie zu. Für kurze Zeit schloss sie die Augen, um sich von nichts Ablenken zu lassen. Es gab nur noch eines, was sie in dieser Situation tun konnte. Sie musste auf die Stimme ihres Herzens hören.
Daraufhin öffnete sie ihre Augen wieder und blickte nun entschlossen in das Gesicht ihres Vaters.
Ihre Stimme klang selbstbewusst, ohne die geringste Spur von Unsicherheit.
„Ich muss zu ihm!“
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen lief sie zu der Wand, an der ein Sortiment Waffen aufgehängt war und schnallte sich den Köcher, ihren Bogen und den Speer auf den Rücken, nachdem sie diese aus der Wandhalterung gerissen hatte. Mit schnellen Schritten eilte sie in eines der angrenzenden Zimmer um nach kurzer Zeit mit allem, was man für das Überleben in der Wildnis brauchte, zurückzukehren. Bis zum Rand gefüllt baumelte eine Feldflasche mit einem leise glucksenden Geräusch auf der einen, das Essensbündel mit dem Proviant auf der anderen Seite ihrer schlanken Hüften, befestigt an einem schlichten Ledergürtel. An diesem fast schon historischen Kunstwerk hingen noch weitere, kleine Säckchen aufgereiht, welche sich wohl im verlaufe ihrer Reise mit den unterschiedlichsten Heilkräutern aus ganz Abendwind füllen sollten. Eines der Säckchen war schon jetzt etwas angeschwollener als seine Artgenossen. Nur sie wusste, was sich darin befand. Die Blütenblätter des Goldbaumes Mallorn… Es war ein Geschenk an sie und deshalb von so unschätzbarem Wert, weil es so gut wie nie in der Geschichte ihres Dorfes vorkam, dass dieser Baum seine wertvollen Besitztümer einfach so abwarf. Doch an diesem verheissungsvollen Tag, an dem sie vergebens auf ihren Freund gewartet hatte, schwebten einige davon leicht wie Federn vor ihre Füsse, als wären sie ganz speziell für sie gedacht. Fionna musste sich zuerst ungläubig die Augen reiben. Sie hatte eine Weile gezögert, bis sie schliesslich wagte das grosszügige Geschenk anzunehmen. Die ganze Welt würde sie dafür beneiden, wusste doch jeder von deren schmerzlindernder Wirkung.
Es wäre natürlich auch möglich gewesen dem Baum die Blüten mit Gewalt zu entreissen. Doch es gab Gesetze, welche dieses Vorgehen strikt untersagten und eine harte Bestrafung nach sich zogen, wenn man diese dennoch missachtete. Man erzählte sich schlimme Geschichten über den Baum.
Grosses Unheil würde über Lanthir hereinbrechen, wenn sich habgierige Menschen an ihm vergehen würden und ihn zu bestehlen versuchten. Der mächtige Goldbaum würde daraufhin vor Schmerz verdorren und die Winter würden ewig währen in diesem frostigen Land. Fionna hielt das ganze Gerede jedoch bloss für Ammenmärchen. Sie glaubte lediglich daran, dass der Baum ein paar Äste missmutig hängen lassen würde, mehr nicht. Aber dennoch hatte sie es bis heute nicht gewagt den alten Mann zu erzürnen, war er doch ein Segen und bereitete ihrem Volk Freude mit seinem Blütenduft und Farbenpracht. Als Fionna wieder in den grossen Raum trat, zögerte Tyrus nicht lange um sie auf ihr verrücktes Vorhaben anzusprechen.
„Du wirst doch nicht so kurz vor Winterwende aufbrechen wollen! Das ist mehr als gefährlich. Du weißt nicht, wie viele Menschen schon ihr eisiges Grab da draussen gefunden haben.“
Fionna schüttelte auf diese Bemerkung hin bloss abwesend den Kopf.
„Du wirst mich nicht zurückhalten können. Ich bin jetzt ein vollwertiges Mitglied unserer Sippe und in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.“
Tyrus starrte sie mit strengen Augen an. Fast schon verfluchte er die Entscheidung ihrer Lehrmeister sie zu einem vollwertigen Mitglieder der Falanyel zu erklären.
Fionna war von je her ein Sturkopf wie ihre Mutter, ungebunden und wild. Er wusste, wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie nichts in der Welt mehr davon abbringen. Er atmete hörbar aus und liess die kräftigen Schultern hängen.
„Pass auf dich auf“…
Fionna begann wieder zu strahlen. Ihr Vater schritt auf sie zu und umarmte sie innig.
„Papa, du erwürgst mich ja!“
„Oh entschuldige Kind. Willst du es dir wirklich nicht noch einmal überlegen.“
Fionna schüttelte nur leicht den Kopf.
„Meine Entscheidung steht fest. Ich kann nicht ewig dein kleines Mädchen bleiben. Ausserdem braucht mich Tandimiel jetzt mehr als je zuvor.“
„Ich weiss“… Tyrus schien ziemlich niedergeschlagen zu sein.
„Sei nicht traurig Papa, sobald ich Tandimiel gefunden habe, kehre ich mit ihm zurück, versprochen. Ich kann spüren, dass er irgendwo da draussen ist.“ Ihr Blick schweift durch den Raum.
„Woher willst du das denn wissen?“ Erwiderte Tyrus erstaunt.
Fionna zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Der gute Mallorn hat es mir zugeflüstert.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater auf die Wange. Mit einem lässigen Gang schritt sie an ihm vorbei zur Tür. Dort angekommen winkte sie ihm noch einmal zum Abschied.
„Keine Angst Papa, ich werde auf mich aufpassen. Der Winter wird erst in ein paar Tagen hereinbrechen. Bis dahin bin ich längst über alle Berge. Die Natur wird über mich wachen.“
Tyrus blickte in ihre smaragdgrünen Augen und setzte zu einem kleinen Lächeln an.
„Zeige der Welt aus was für einem Holz eine Falmarin geschnitzt ist.“
Fionna lächelte breit zurück, „das werde ich!“
Fionna entfernte sich immer weiter von der Siedlung, bis sie auf einer kleinen Anhöhe in der nähe des Waldrandes angekommen war. Eine warme Briese kam auf und liebkoste ihre zarte Haut. Sie sog die frische Luft ein wie ein Blasebalg und zog den Umhang fester um ihre Schultern. Ihr honiggelbes Haar und ihre strahlenden Augen fingen Lichtspritzer auf, die zwischen den Zweigen hindurch fielen. Man hätte schwören mögen, dass sich sogar die Äste der Weide bewegten, um ihrer Schönheit funkelnde Lichtspritzer von Sonnenstrahlen aufzusetzen.
Auf dieser abendlichen Lichtung war sie nur ein Schatten von vielen.
Vor ihr erhob sich ein kleiner, schlichter Grabstein aus der Erde. Ihre sonst so heiteren, smaragdgrünen Augen starrten ins Leere, als wäre sie tief in der Vergangenheit versunken. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Ihre Augen weiteten sich, als verstünden sie nicht. Sie stand da mit geöffnetem Mund, eine winzige schwarze Öffnung unterhalb der Nase. Es war eine blasse Erinnerung aus ihrer Vergangenheit mit der sie noch heute nicht richtig abgeschlossen hatte.
An diesem Ort ruhte ihre Mutter, Lauriel.
Ein Schmerz zuckte jetzt in ihren Augen, die mehr und mehr zu großen dunklen Scheiben wurden, die nichts und niemanden mehr wahrnahmen und in denen man sich zu spiegeln glaubte. Ihre Gedanken kreisten um ihre Mutter, die sie niemals kennen gelernt hatte. Tante Walla hatte ihr vor langer Zeit die wahre Geschichte gestanden, wie es sich wirklich zugetragen hatte als ihre Mutter an diesem verheissungsvollen Abend die Welt verliess. Nicht durch einen Unfall, wie es ihr Vater ihr immer glauben machen wollte. Nein, sondern durch ihre Geburt. Walla meinte, sie hätte das Recht die Wahrheit zu erfahren, sie war ja schliesslich kein kleines Kind mehr. Hätte sie gewusst, was sie damit auslösen würde, hätte sie sicherlich geschwiegen. Denn seit diesem Tage an plagten Fionna oft schlimme Schuldgefühle. Obwohl Walla immer wieder versucht hatte Fionna davon zu überzeugen, dass sie nichts dafür könne, wusste sie doch ganz genau, warum Lauriel ihren Tod so bereitwillig hingenommen hatte. Ihr wurde ja schliesslich ein Abtreibungsmittel angeboten in jener grausamen Nacht, damit sie wenigstens sich selbst retten konnte vor den eisigen Klauen des Todes. Doch sie hatte furchtlos abgelehnt. Bis zum bitteren Ende hatte sie um Fionnas Leben gekämpft, auf Gedeih und Verderben.
Ihr Opfer sollte nicht um sonst gewesen sein.
„Ich werde dich nicht enttäuschen Mutter“, sagte Fionna in leisem Flüsterton, als wollte sie ihre Ruhe nicht stören. Geschmeidig sank sie auf ein Knie nieder und legte zärtlich eine ihrer zierlichen Hände auf die weiche, trockene Erde, ein leises Lied aus ihrer Kindheit vor sich hin summend. Im nächsten Augenblick musste sie sich auf die Zähne beissen vor Anstrengung. Ihr Gesicht rötete sich dabei schlagartig und sie begann am ganzen Körper zu zittern, wie von unsichtbaren Ängsten gequält. Doch bald war es vollbracht. Ein Raunen schien jetzt von den Baumreihen nieder zu hallen, als würden sie staunend auf das Werk vor ihren Füssen nieder blicken. Aus der zuvor kalten und makellosen Erde auf Lauriels Grab, spross nun ein kleiner Trieb, winzig und unscheinbar. Fionnas Augen konnten bereits jetzt erkennen, dass eines Tages ein prächtiger und wunderschöner Baum daraus erwachsen würde. Ihr Gesicht entspannte sich und erhellte sich gleichzeitig bei diesem Anblick. Dies sollte ihr letztes Abschiedsgeschenk an ihre verstorbene Mutter sein. Aus dem Tod war neues Leben entstanden. Mit der Gewissheit, dass nicht alles auf den ersten Blick verloren scheint, würde sie ihre Reise beginnen, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten.
Langsam erhob sie sich und wandte ihr Gesicht dem Dorf zu, ihrer wahren und einzigen Heimat.
Das Rascheln der Blätter schien die Welt mit tiefer Trauer zu erfüllen. Immer weniger Lichtstrahlen fanden ihren Weg auf die Erde. Das Land vor ihr schien in einen sanften Schlummer verfallen zu sein, als würde es so lange ruhen, bis sie wiederkehren würde um es mit ihrem heiteren Lachen zu erfreuen. Fionna betrachtete das feurige Rot am Horizont, dass langsam aber beständig an Glanz verlor und sich immer mehr verdunkelte, bis es schliesslich in ein leichtes Violett überging. Ihr stockte der Atem bei dieser Schönheit.
Aus den Steinkaminen der Holzhäuser drang warmer Dampf, der sich in die Luft erhob um mit dem Wind eins zu werden. Von weiter Ferne drang das beruhigende Plätschern des Karminflusses an ihre Ohren, das nur hin und wieder von dem Gebell eines streunenden Hundes unterbrochen wurde. Die Nacht war warm und sternenklar. Selbst der volle Mond schien sich über die Wärme, welche die Sonne über Tag dem Land bescherte zu freuen. Die Berge waren unsichtbar eingefügt in die schwarze Nachtwand, auch das Dorf davor war ausgelöscht. Nur einzelne Lichter blinkten noch darin, störrisch, aufgeregt und wie im Traum.
Warum wollte sie ihr Zuhause überhaupt verlassen? Hier gab es Sicherheit und Geborgenheit, und sie war umgeben von all jenen, die sie liebten. Dieses Land war so angenehm wie getragener Flanell an einem kalten Morgen. Warum nach mehr suchen? Ihr Blick schweifte über das Tal, vorbei an „Mallorn“ dessen goldene Blüten selbst im Herbst immer noch voller Kraft und Pracht erblühten, zu ihrem Haus in dessen Türrahmen die Umrisse eines kräftigen Mannes zu erkennen waren, der ihr gelassen und ruhig entgegen winkte.
Hier war ihr Zuhause und das nicht nur wegen des strohbedeckten Dachs und des warmen Kamins.
In Fionnas Augenwinkeln war ein Glitzern zu vernehmen, das verdächtig nach Tränen aussah. Verzweifelt versuchte sie die aufkommende Trauer zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht. Tränen rannen ihr nun hemmungslos über die Wangen und fielen mit einem leise klatschenden Geräusch auf den trockenen Waldboden. Von jetzt an würden unterschiedliche Feuer jeden von ihnen schmieden. Wenn sie sich das nächste Mal begegnen würden, wäre keiner mehr derselbe, der er heute war. Fionna wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und machte sich bereit zu gehen. Zögernd kehrte sie ihrem Dorf den Rücken zu. Langsam und bedächtig schritt sie am Grabstein ihrer Mutter vorbei, ohne diesen eines weiteren Blickes zu würdigen. An diesem Abend wurden bereits genug Tränen vergossen. Sie wollte ihren Schmerz nicht noch weiter in sich hineinfressen lassen. Ihre Lippen formten leise Worte, die aus ihrem tiefsten Innern in die Welt hinaussprudelten.
„Ihr seid in meinem Herzen, bis die gewundenen Pfade des Schicksals uns wieder zueinander führen.“
Die Zukunft, so sagt man, steht in den Sternen geschrieben. Wie sehr wünschte sich Fionna in diesem Augenblick einen von ihnen vom nächtlichen Firmament zu pflücken um ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Belmara, die Göttin der Liebe verlangte von ihr, den Weg den sie beschritten hatte, zu Ende zu gehen. Niemand konnte sich gegen sein Schicksal stellen, nicht einmal die Tochter des Cona. Sie würde dem Ruf der Göttin Folge leisten und nicht eher ruhen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Ein Flüstern drang von ihren weichen Lippen an die kalte, klare Abendluft, um sich hinauf zu den Sternen zu erheben. “Tandimiel, ich komme.“