Shira [madmaxx]

[Aestiva]

Im Exil

Die Weiden in dem fernen Wäldchen am Fuße der Burg wiegten sanft im letzten warmen Herbstwind,
der durch die Fenster des hohen Turmes zu Shira hinaufwehte. Ein Tag war nun vergangen, seit
sie sich aus der Obhut der Abtei losriss und den überraschend anstrengenden Weg auf sich nahm.
Den Weg, der, wie sie glaubte, in Sicherheit und vielleicht wieder ein Stück Freiheit führte.
Hinaus aus dem Käfig Andurien, dessen Gitter sie sich selbst geschmiedet hatte, der umwoben
war von Hass und Intrigen und - das musste sie sich nach all dem eingestehen - erfüllt von dem
leisen Wimmern der Vergangenheit, das sich tief in ihre Seele nagte.
Hier, fern und doch so nah der Gefahr, fand sie, was sie zu suchen glaubte. Hier, in diesem
kleinen Zimmer im Turm, mit Wachen vor der Türe, unaufindbar und uneinnehmbar für all ihre
Feinde, hier fand sie Sicherheit. Doch was brachte sie ihr? Nur ihr Gefängnis hatte sie getauscht,
in ein unsagbar langweiliges und - das war noch viel schlimmer - ruhiges.
Das monotone Stapfen der Wachen auf den Mauern, das unstete und doch auf seine Weise ruhige
Flackern der Fackeln an den Wänden und der Kerzen auf den Tischen, das leise pfeifen des Windes
durch ihre Kammer, dies alles drohte sie sanft in die tiefen ihrer Erinnerung zu wiegen, zu
Bildern, die sie eigentlich längst vergessen glaubte, an die Nächte, in denen sie starb.

Die Dunkelheit. Die Dunkelheit war ihr Freund. Geklammert an ihre zerfetzte Decke, Augen
zusammengekniffen konzentrierte sie sich nur auf dieses Nichts, diese absolute Leere, alles um
sie herum ignorierend. Die kalten, schweißfeuchten Hände, die ihren jungen Körper entlangglitten.
Das Geflüster in ihrem Ohr. Dieser Schmerz, tief in ihr..
Beim ersten Mal war es schlimm gewesen. Doch mit der Zeit, so sagte sie sich, war es garnichtmehr
so schlimm.
Tatsächlich verstummten ihre Tränen, als die Pein alltäglich wurde. Als sich auch immer mehr
Striemen über ihren schneeweißen Rücken zogen. Doch war sie nicht vorbereitet auf jene laue
Frühlingsnacht, deren Geruch doch so lieblich war und in der sie dachte das nichts diesen Moment
der Ruhe stören konnte.
In einer Nische hockte sie, unter den Baumwurzeln, die wie ein Schirm über sie ragten. In der
Finsternis, die ihr immer Trost gespendet hatte. Sie lauschte dem Nichts. Diesem Moment der
Stille zwischen dem letzten Zwitschern der Vögel und dem ersten Zirpen der Insekten, dem Nichts,
zu dem auch sie geworden war, dem Nichts, das sie ganz ausfüllte mit wohliger Stille.
An diesem Abend trieb sie nichtsmehr zurück in das verkommene Holzhaus, das ihre Mutter Zuhause
nannte. Es war schon immer bedeutungslos für sie gewesen. Ihr Weg führte sie weiter hinaus, doch
selbst konnte sie nicht sagen wohin.

von madmaxx